[Interview aus 2023] Zwischenzeitlich ist die Nachfolgerin im Amt: Christa Olearius
42.400 Christen leben allein in Steglitz, Tendenz sinkend; jeder fünfte Steglitzer und jede fünfte Steglitzerin ist Mitglied der evangelischen Kirche.
Herr Seibt, sind Sie als Superintendent eher Chef, Chorleiter oder Hausmeister?
Das ist klar: ein Chorleiter. Allerdings muss ein Chorleiter auch manchmal der Chef sein. Die erste Aufgabe des Chorleiters ist, dass alle Stimmen gut zum Tragen kommen – und die Vielfalt ist in einem Kirchenkreis groß. Damit daraus eine Gesamtmusik wird, braucht es einen oder mehrere Dirigenten. Ich bin manchmal auch Hausmeister, ich wechsele auch Glühbirnen aus.
Was machen Sie denn als Chorleiter, wenn jemand ganz falsch singt?
Es kommt natürlich im Kirchenkreis vor, dass dissonant gesungen wird. Oder zu leise. Oder zu laut. Manchmal muss man auch einfach üben, zusammen zu singen, zusammen zu arbeiten. Wenn jemand falsch singt, dann reagiere ich ganz freundlich; aus dem Chor geworfen wird niemand. Ich würde mich an Ihre Seite begeben und mit Ihnen gemeinsam schauen, woran es liegt, dass Sie die schiefen Töne treffen. Und manchmal wird der schiefe Ton auch sehr gebraucht.
Manchmal ist der schiefe Ton, der einzig richtige, weil er weiterbringt.
Deshalb muss man genau hinhören – egal in welcher Leitungsfunktion man sich befindet. Kritiker, Rebellen und Unruhegeister können sehr wichtig sein; aber der Hauptchor ist natürlich das Fundament.
Wann wurde denn in den vergangenen Jahren am lautesten schief gesungen?
Es gibt stets die normalen Dissonanzen, die entstehen, wenn 14 Gemeinden miteinander arbeiten. In 14 eigenen Organisationen mit Haupt- und Ehrenamtlichen gibt es Reibungen. Die Gemeinden sind in zwei Sprengel in Lankwitz und Steglitz-Nord aufgeteilt, in Lichterfelde arbeiten die Gemeinden in einem lockeren Verbund zusammen — auch da müssen Spannungen überwunden werden.
In diesen Jahren gab es auch Aufregung von außen: Als Sie 2010 ins Amt kamen, war das mitten in der Finanz- und Bankenkrise …
Dann die große Fluchtbewegung 2015, die Umwelt- und Klimakrise, die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg.
Waren das für den Kirchenkreis die größten Herausforderungen?
Klima, Corona, Ukraine, das sind für die Menschen generell lebensbestimmende Themen. Für den Kirchenkreis und seine Gemeinden – und das mag banal klingen – ist die große Herausforderung gut miteinander zu arbeiten und Aufgaben gemeinsam zu bewältigen. Das fängt schon bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an: Das kann eine Gemeinde alleine heute kaum mehr stemmen. Für die Gemeinden geht es in einer immer lauter werdenden und vielfältigeren Welt darum, gehört zu werden. Und dafür müssen wir uns zeigen und abgestimmt arbeiten.
Auch weil die Kirchensteuereinnahmen sinken und Stellen gestrichen werden …
Das engere Zusammenarbeiten ist nicht nur eine Folge von Sparzwängen. Sparen ist sowieso immer wichtig, wir gehen ja mit Kirchensteuermitteln um, die wir nicht selber erwirtschaftet haben. Aber enge Zusammenarbeit heißt auch, Stärken und Schwächen gut abzustimmen, und gemeinsam Größeres zu schaffen. Zum Beispiel die ökumenischen Gottesdienste auf der Festwiese im Rahmen der Steglitzer Woche.
Wie kann denn die Kirche lauter werden?
Beim Luther-Gedenken 2017 haben wir das große Thema Freiheit mit vielen Tafeln auf die Schloßstraße getragen – Luther auf der Shopping-Meile. Zu Ostern 2020, es war der Anfang der Corona-Krise und alle Gottesdienste fielen aus, kreiste ein Flugzeug mit dem Banner hinter sich „Ostern, Friede sei mit Euch“ über dem Bezirk. Das war eine gute Idee von Pfarrer Sven Grebenstein aus der Markusgemeinde in einer Zeit der Depression. Zum Glück wussten wir damals noch nicht, wie lange das noch gehen würde. Das war eine einmalige, großartige Aktion.
In Ihrer Osterbotschaft 2020 schrieben Sie, dass man zum einen Ängste und Schrecken zugeben dürfe, aber zum anderen sich auch über jedes Hoffnungszeichen freuen sollte. Gelingt es Ihnen, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen?
Ich glaube ja. Ob ich das immer schaffe, kann ich nicht sagen. Aber ich gebe mir Mühe. Zum Beispiel haben wir zuhause eine schöne Sitte: Wir trinken jeden Morgen einen Becher Tee miteinander und gucken dabei ins Grüne. Es gibt eine Regel: Es wird nicht über den Alltag gesprochen. Wir reden nicht über Termine oder wer heute welche Hauspflichten zu erledigen hat – wir lassen den Tag kommen. Eine Viertelstunde, vielleicht auch 20 Minuten. Im hier und heute ankommen und dem Gewirr der Stimmen nicht gleich die Oberhand geben. Erst einmal in der Ruhe sein – und dann geht es los.
2016 wurden Sie von meiner Kollegin Anett Kirchner interviewt. Damals sagten Sie: „Ich bin kein Visionär.“ Stimmt das heute auch noch?
Im Jahr 2023 sehe sicherlich deutlicher als im Jahre 2016, dass wir uns in einer sich schnell verändernden Welt auch verändern müssen. Ob wir uns schnell verändern müssen, ganz schnell, das glaube ich eher nicht. Aber der Veränderungsdruck ist da.
Es verändert sich gerade einiges in unserer Gesellschaft. Zum Beispiel nimmt die Armut zu.
Wir haben alleine drei Laib-und-Seele-Ausgabestellen für Lebensmittel im Kirchenkreis: in der Matthäusgemeinde in Steglitz, in der Dreifaltigkeitsgemeinde in Lankwitz und in der Gemeinde Petrus-Giesensdorf in Lichterfelde. Sie sind enorm wichtig, der Bedarf kann leider nicht gedeckt werden. Wir haben zudem mit dem Diakonischen Werk Steglitz und Teltow-Zehlendorf einen Schatz mit vielen Angeboten und Beratungsstellen, von den Ämterlotsen über das Familienbüro bis zur Schuldnerberatung. Schon im Jahr 2010, als ich neu im Amt war, lautete das Thema einer Kreissynode „Armut in einem reichen Bezirk“.
Welches Zwischenfazit würden Sie 13 Jahre später ziehen?
Ich gehe davon aus, dass auch in unserem Bezirk die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Nicht zuletzt durch die vielen Menschen, die zu uns flüchten, hat die Armut zugenommen. Die Kirche muss ihre Angebote ausbauen. Es ist unsere Aufgabe, uns Menschen zuzuwenden – in Wort und Tat.
Ist es nicht auch eine Gefahr, wenn die staatliche Verantwortung auf gesellschaftliche Gruppen wie Bürgerinitiativen oder Kirche übertragen wird?
Wenn in einer Notlage, in der es keine anderen Ressourcen gibt, die Kirche eintritt und hilft, dann finde ich es gut. Dann sollte die Gesellschaft gemeinsam handeln. Nicht gut wäre es, wenn sich die Verantwortlichen im Bezirksamt oder in den Landesverwaltungen auf Dauer damit einrichten würden, dass es die Kirche oder andere schon richten werden.
Bevor Sie Pfarrer wurden, lernten Sie Bauarbeiter. Wie kam das?
Baufacharbeiter. Ich bin ein DDR-Kind, in Greifswald geboren. Ich komme aus einer Pfarrersfamilie, ab meinem zwölften Lebensjahr war mein Vater Pfarrer an der Marienkirche in Stralsund. Für mich als Pfarrerskind war es unmöglich Abitur zu machen, aber es gab den Weg „Berufsausbildung mit Abitur“. Also habe ich drei Jahre lang als Lehrling auf dem Bau gearbeitet. Es war gut so, es war keine Notlösung. Ich wollte mich gerne handwerklich betätigen, ich wollte auch aus dieser Pfarrer- und Kirchenwelt etwas raus. Eigentlich wollte ich Architekt werden – aber das ging auch nicht. Beim Wehrersatzdienst als Bausoldat hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich merkte, dass ich gerne mit Menschen arbeiten möchte und hatte auch den Eindruck, dass es in der Kirche Raum gibt, sich zu entfalten. Ein Raum der Freiheit und des Miteinanders.
Dann passt es ja, dass Sie nun viel mit Bauprojekten zu tun haben.
Ja, als Pfarrer und Superintendent gehört Bauen zum Job dazu – vom Kitabau bis zur Kirchturmsanierung.
Sie haben sich als Gesprächsort die Patmosgemeinde ausgesucht. Warum, was ist an diesem Bau so besonders?
Dieses Haus strahlt Klarheit aus. Sie kommen durch einen langen Gang in die Kirche, rechts die Gemeinderäume, links der Kirchsaal. Es ist alles klar. Es ist ein Spiegel, wie ich selber auch gerne sein möchte, ich möchte klar sein und auch für Klarheit sorgen. Berechenbarkeit, Durchsichtigkeit, Licht, Freundlichkeit und Helligkeit, das ist mir wichtig. Der Architekt Peter Lehrecke hat das Haus 1963 errichtet, er hat Theologie gebaut.
Zurück zur Zukunft: Um was muss sich der Kirchenkreis in der Zukunft kümmern?
Die Kirche in Steglitz muss in einer zunehmend säkularen, mit dem christlichen Glauben unvertrauten Welt, Gesicht zeigen und ihre Botschaft deutlich machen. Konkret wollen wir in der nächsten Zeit die Arbeit mit Kindern im Kirchenkreis stärken, es sollen drei neue halbe Stellen eingerichtet werden, für jede der drei Regionen eine. Zweitens: Wir haben in unseren 16 Kitas immer mehr Mitarbeitende, die keiner Kirche angehören und oft auch kaum kirchliche Grundinformationen haben. Wir wollen mehr Gespräche über den Glauben anbieten – da muss keiner Sorge haben, die Mitarbeitenden müssten sich gleich taufen lassen. Aber es soll vermittelt werden, was es bedeutet, in der Kita einer Kirchengemeinde zu arbeiten. Ähnlich sieht es übrigens in vielen Arbeitsbereichen des Diakonischen Werkes aus. Als drittes haben wir die Gottesdienste im Blick.
Was heißt das?
Einer Predigt für zehn oder 15 Minuten zu lauschen, ist anstrengend, das ist heute ungewohnt. Wir wollen Mut machen zum Experimentieren. Warum nicht eine Kurzpredigt mit Resonanz aus der Gemeinde einplanen? Es darf auch gerne öfter nach einem tollen Orgelstück im Gottesdienst geklatscht werden. In der Bibel steht übrigens nicht, dass der Gottesdienst am Sonntagvormittag zu sein hat. Jeder der weiß, wie lecker ein Sonntagsfrühstück um 10 Uhr mit frischen Brötchen ist, kennt die Stärke unserer Konkurrenz.
Wie sieht es denn mit dem Thema Klimaschutz aus, dem Zukunftsthema Nummer eins?
Die Landeskirche hat ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz auf den Weg gebracht. Eine der wichtigsten Neuerungen sind die kirchenkreisweiten Klimaschutzfonds: Jede Gemeinde muss analog zu ihrem CO2-Ausstoss eine CO2-Abgabe zahlen, das kann ziemlich schmerzhaft sein. Aus diesen Geldern wird ein Fonds gespeist, aus dem dann wiederum klimafreundliche Maßnahmen in den Gemeinden finanziert werden. Diesen Prozess des klimafreundlichen Umbaus wird meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger ab kommenden März weiter moderieren, mitgestalten und ausbauen müssen.
Und was machen Sie dann?
Ich mache die Arbeit als Superintendent gerne, aber man opfert auch Freizeit und Kraft. Deshalb werde ich im Ruhestand viel lesen, ich werde Radfahren und Sport machen, mich um Haus, Hof und Garten kümmern. Ich habe neulich das Wort „herumschweifen“ gelesen, ein schönes Wort. Das will ich machen, ich habe Lust diese Stadt Berlin weiter kennenzulernen.
Aus Steglitz-Zehlendorf berichtet Boris Buchholz [boris.buchholz
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